Oktoberrevolution und Emigration
Kontinuum der Krise: Weltkrieg, Revolution, Bürgerkrieg
Als Elsa 1921 Russland verließ, befand sich das Land ab 1914 in einem permanenten Krisenzustand. Der Erste Weltkrieg, der das Russländische Reich über drei Millionen Opfer kosten sollte, war noch nicht beendet, als die Bolschewiki 1917 mit der Oktoberrevolution die Macht übernahmen. Doch die Revolutionäre konnten sich gegen die alten zarischen Eliten nicht sofort durchsetzen. Der folgende Bürgerkrieg traf die Zivilbevölkerung noch härter als der Erste Weltkrieg: Wegen der schlechten Versorgungslage verhungerten allein 1921/22 fünf Millionen Menschen. Erst 1922 konnten die Bolschewiki den Krieg siegreich beenden. Doch bereits seit der Oktoberrevolution wütete der „Rote Terror“, der sich unter anderem gegen die Angehörigen der alten Ordnung, etwa Adelige und Mitglieder des Bürgertums richtete.
Elsas Weg in die Emigration
Wegen ihrer deutschen und bürgerlichen Herkunft hatte Elsa in den Krisenjahren doppelt zu leiden. Ihre Eltern wurden bereits zu Beginn des Ersten Weltkriegs zugleich mit vielen anderen Deutschen aus Russland ausgewiesen und ihre drei Brüder ins Gouvernement Wjatka deportiert. Die Ausweisungen waren das Resultat der antideutschen Stimmung, die wegen des Krieges in Russland herrschte. Elsa durfte zwar dank der Heirat mit Dmitri in Moskau bleiben, war dort aber nach 1917 dem Terror ausgesetzt. In ihrem Haus wurden Fremde einquartiert, Dmitris Fabrik wurde geschlossen, es gab Hausdurchsuchungen. Die Angst vor einer Verhaftung verfolgte Elsa und ihre Tochter Nathalie noch Jahre später:
„Zumeist holte man die Menschen nachts ab. Jahrelang, als Mutter und ich schon in Deutschland waren, wachten wir beide nachts auf, wenn ein Auto vorbei fuhr oder gar stehen blieb“.
Quelle: Nathalie Winokurow, Erinnerungen, 10.
Elise Rammelmeyer, Postkarte an Otto Rammelmeyer, 1914.
Quelle: Briefe von und an Elise Rammelmeyer, geboren Waller. In: Nachlass von Elsa Winokurow (1883-1983).
https://opacplus.bsb-muenchen.de/search?id=BV047117118&db=100&View=default. (CC BY-NC-SA 4.0)
In dieser Postkarte von Elsas Mutter Elise an Otto Rammelmeyer aus dem Jahr 1914 drückt sie ihre Verzweiflung über die Deportationen ihrer beiden Söhne und ihres Mannes nach Wjatka aus.
Obwohl Elsa Angst vor dem Terror hatte, war sie als Ärztin für die Bolschewiki nützlich und in gewisser Weise vor Verfolgung geschützt. Wie die meisten Ärzt:innen konnte sie nach der Oktoberrevolution weiterhin praktizieren, da auch das neue Regime auf ihre Expertise nicht verzichten konnte. Das größte Problem für Elsa war somit nicht die Gewalt, sondern der Hunger. Nathalie erinnerte sich an die Bürgerkriegszeit:
„Der Hunger, wie soll ich ihn beschreiben? Ich sah aus dem Fenster, wie ein Pferd vor unserem Hause hinfiel und wie die Menschen sich auf dieses unglückliche Tier stürzten und der noch atmenden Kreatur das Fleisch herausschnitten. Auch wir aßen davon. Manchmal gab es Kartoffeln, die schon gar nicht nach Kartoffeln aussahen, so oft waren sie gefroren und wieder aufgetaut. Schwarz waren sie, waren glitschig und rochen widerlich süß“.
Quelle: Nathalie Winokurow, Erinnerungen, 10.
Bildtitel: Elsa und Nathalie Winokurow, 1915.
Quelle: Sammlung Fotografien aus dem Nachlass Elsa Winokurow. Fotografie. In: Nachlass von Elsa Winokurow (1883-1983). https://opacplus.bsb-muenchen.de/search?id=BV047117118&db=100&View=default. (CC BY-NC-SA 4.0)
Elsa und ihre vierjährige Tochter Nathalie im Jahr 1915.
Von Hunger geschwächt, erkrankte Nathalie im Oktober 1920 an Typhus. Da Elsa in Moskau keine Medikamente für ihre neunjährige Tochter besorgen konnte, entschloss sie sich, nach Deutschland auszureisen. Allerdings war es russischen Staatsbürgern in dieser Zeit nicht erlaubt, das Land zu verlassen. Elsa blieb nur die Scheidung von Dmitri, da sie so ihre deutsche Staatsbürgerschaft zurückerhielt. Nach mehreren erfolglosen Versuchen gelang Elsa und Nathalie schließlich im Herbst 1921 die Ausreise. Dmitri blieb allein zurück:
„Wir [Elsa und Dmitri] hofften auf eine Änderung des Regimes in spätestens sechs Jahren. Aus diesen Hoffnungen wurde, wie wir bis heute, 1976, es erleben, nichts. Wir haben uns nicht mehr gesehen“.
Quelle: Elsa Winokurow, Autobiographie, 6.
Quelle: Dampfschiff SS Carbo II an der Anlegestelle, zwischen 1917 und 1921, Postkarte (gemeinfrei)
Auf diesem Kohlefrachtschiff (Carbo II) verließen Elsa und Nathalie im Jahr 1921 Russland für immer.
Eine von vielen
Elsa gehörte zur ersten Welle der russischen Emigration, bei der zwei Millionen Menschen – Adlige, Beamte, Industrielle, Teile der Intelligenzija und des Bürgertums – aus Sowjetrussland flohen. Die meisten von ihnen einten der Antibolschewismus und der Glaube daran, dass sich die Bolschewiki in Russland nicht lange halten würden. Durch die Oktoberrevolution sahen sie ihr bisheriges Russland und dessen Werte in Gefahr. Selbst Jahrzehnte später, 1976, bewertete Elsa den Zerfall der Regierung und die revolutionäre Propaganda als einen „abgrundtiefen Verfall jeglicher Ethik im gesamten Volk“ (ebd.). Diese Distanz behielten die meisten Emigrant:innen gegenüber der Sowjetunion bei. Davon abgesehen gingen sie in der Emigration aber verschiedene Wege. Elsas Lebensweg außerhalb ihrer Heimat war insofern außergewöhnlich, als sie, im Unterschied zu vielen, an Erfahrungen und Kontakte ihrer russlanddeutschen Herkunft anknüpfen konnte. Wie zuvor das Studium und die Tätigkeit als Ärztin konnte sie auch die Integration in Deutschland gut meistern und stellte erneut unter Beweis, dass sie sich gegen Widerstände durchzusetzen wusste.
Empfohlene Zitierweise: Rothschink, Raphael: Oktoberrevolution und Emigration, in: Elsa Winokurow - Studentin, Migrantin, Ärztin. Ein bemerkenswertes Leben um die Jahrhundertwende. (https://www.elsa-winokurow-esg.de/oktoberrevolution). CC BY-NC-SA 4.0 (Datum des letzten Besuchs).