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Elsas berufliche Startschwierigkeiten in Deutschland

Rückblick auf Elsas Karriere

1958 feierte Elsa ihr 50-jähriges Berufsjubiläum, zu dem sie nicht nur Kolleg:innen beglückwünschten. Auch die Lokalpresse würdigte den Lebensweg der in Hannover immer noch praktizierenden Ärztin in einem Zeitungsartikel, der ihren steinigen Weg in den Arztberuf beschrieb. Ein genauerer Blick auf die damaligen gesellschaftlichen Umstände macht verständlich, mit welchen Schwierigkeiten Elsa zu Beginn ihrer ärztlichen Karriere in Deutschland in den 1920er Jahren zu kämpfen hatte. 

Erna Donat, Anmerkungen zu einem goldenen Hut, Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 25. April 1958, Seite unbekannt (Quelle: Nachlass von Elsa Winokurow (1883-1983). https://opacplus.bsb-muenchen.de/search?id=BV047117118&db=100&View=default. CC BY-NC-SA 4.0)

Im Frühjahr 1958 würdigte die Hannoversche Allgemeine Zeitung Elsas ungewöhnliche Karriere. 30 Jahre nach ihrem Tod wurde sie auch von der Stadt Hannover geehrt: 2003 wurde dort der Elsa-Winokurow-Weg eingeweiht.

Pseudowissenschaftliche Frauenfeindlichkeit

Mit frauenfeindlichen Stereotypen war Elsa schon während ihres Studiums konfrontiert, denn um die Jahrhundertwende lehnte ein Großteil der deutschen Ärzte Frauen als Kolleginnen ab. Dies äußerte sich zum Beispiel darin, dass einige Medizinprofessoren sich weigerten, eine Vorlesung zu halten, wenn Frauen anwesend waren. Auch von Frauen verfasste wissenschaftliche Arbeiten wurden oft selbst dann schlecht bewertet, wenn sie bahnbrechende medizinische Erkenntnisse enthielten. Begründet wurde diese Diskriminierung mit pseudowissenschaftlichen Argumenten, die einen Rangunterschied zwischen Mann und Frau medizinisch belegen sollten.

„Denn es hat sich dabei durch die unpartheiischste [sic] und gewissenhafteste anatomische und physiologische Forschung herausgestellt, dass das Weib entschieden ungleich schwächer ist, in seiner ganzen Organisation einen minder hohen Entwicklungsgrad erreicht hat und in allen Beziehungen dem Kinde näher steht, als der Mann.“ 

Theodor L. W. von Bischoff, Das Studium und die Ausübung der Medicin durch Frauen. München 1872, 14.

Der Autor dieser Zeilen, der Münchener Anatom Theodor L. W. von Bischoff (1807–1882), betont hier wie an weiteren Stellen seines 1872 erschienenen Werks „Das Studium und die Ausübung der Medicin [sic] durch Frauen“, dass Frauen körperlich und geistig das Kindliche nie abgelegt hätten; damit seien sie den Männern unterlegen. Über Jahrzehnte wurde seine Schrift von frauenfeindlichen Ärzten in Deutschland zitiert.

An einer weiteren Stelle in von Bischoffs Werk heißt es: „Aus dieser Verschiedenartigkeit der Geschlechter in körperlicher und geistiger Hinsicht, geht unwiderleglich hervor, dass das weibliche Geschlecht für das Studium und die Pflege der Wissenschaften und insbesondere der Medizin nicht geeignet ist.“  Solche Auffassungen vertraten auch viele andere deutsche Ärzte der Jahrhundertwende, die den Frauen das Recht auf die Ausübung des medizinischen Berufs absprachen.

Ärztinnen und die deutsche Medizin

Diese frauenverachtende Stimmung war in der deutschen Medizin immer noch sehr verbreitet, als Elsa 1921 aus Moskau nach Deutschland floh und dort ihre Arbeit als Ärztin fortsetzen wollte. 1924 konnte sich Elsa zwar an der Chirurgischen Universitätsklinik in Heidelberg gewisse Einblicke in die Chirurgie verschaffen, der ihre ganze Leidenschaft galt. Doch als Frau durfte sie nicht volontieren: „Es war mir gelungen, mich [dem Heidelberger Chirurgen] Prof. Enderlen vorzustellen und auch eine Lampe über seinem hochgeachteten Scheitel zu halten, um im entscheidenden Moment das Operationsfeld zu erhellen – aber weiter war ich nicht gekommen“ – notierte Elsa enttäuscht in ihren Erinnerungen. Enderlen war nämlich „gegen die Hochschulbildung für Frauen, und weibliche Ärzte erkannte er nicht an“ (Elsa Winokurow, Erinnerungen, 24f. und dies., Autobiographie, 7). Diese Abwehrhaltung gegenüber Ärztinnen war damals nicht ungewöhnlich. Sie veranlasste Elsa zu der Feststellung, „dass man in Russland der gebildeten Frau kameradschaftlicher und höflicher begegnete als in Deutschland“ (Elsa Winokurow, Autobiographie, 7). Mit derselben Ablehnung und Diskriminierung, die Elsa im Berufsleben erlebte, sahen sich auch andere Ärztinnen konfrontiert.

Elsa kämpft sich durch

Nicht alle deutschen Ärzte waren jedoch der Auffassung, dass Frauen aufgrund vermeintlicher geistiger oder physischer Besonderheiten keinen Platz im akademischen und Berufsleben haben sollten. Ein solcher Arzt war beispielsweise Professor Valentin, den Elsa Ende 1924 durch einen Zufall kennenlernte und der ihr Fachwissen durchaus zu schätzen wusste. Er verhalf ihr zu einer Assistenz- und Vertretungsstelle im Annastift, einer orthopädischen Heilanstalt in Hannover. Dort arbeitete sie von 1925 bis 1930 unter seiner Leitung. Trotz dieser glücklichen Fügung waren für Elsas Einstellung aber vor allem ihre Kenntnisse als Chirurgin und Orthopädin ausschlaggebend.

Elsas „Frausein“ hinderte sie nicht daran, als Ärztin zu arbeiten. Tatsächlich waren es womöglich gerade diese als „wissenschaftliche Tatsachen“ getarnten frauenfeindlichen Einstellungen, die sich für Elsa als zusätzlicher Ansporn erwiesen.

Empfohlene Zitierweise: Nemec, Birgit: Elsas berufliche Startschwierigkeiten in Deutschland, in: Elsa Winokurow - Studentin, Migrantin, Ärztin. Ein bemerkenswertes Leben um die Jahrhundertwende. (https://www.elsa-winokurow-esg.de/berufliche-startschwierigkeiten). CC BY-NC-SA 4.0 (Datum des letzten Besuchs).

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