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Stereotype gegenüber Jüdinnen und Juden

Jüdinnen und Juden im Zarenreich

Ab 1887 erschwerte das Russländische Reich Juden den Besuch von Sekundarschulen und Universitäten durch die Einführung höherer Studiengebühren und einer Sperrklausel. Die Regierung legitimierte den Numerus clausus unter anderem mit dem Vorwurf, jüdische Menschen seien Russland gegenüber illoyal und würden die Bevölkerung wirtschaftlich ausbeuten. An staatlichen Sekundarschulen und Universitäten innerhalb des Ansiedlungsrayons lag die Quote für jüdische Studierende bei zehn Prozent. Außerhalb des Ansiedlungsrayons durften höchstens fünf Prozent und in den Großstädten St. Petersburg und Moskau lediglich drei Prozent der Studierenden Juden sein.

Die Restriktionen führten dazu, dass sich viele Jüdinnen und Juden um die Jahrhundertwende für das Studium in der Schweiz oder in Deutschland entschieden. Zwar hatten sie in diesen Zielländern grundsätzlich Zugang zu den Hochschulen, doch bedeutet dies nicht, dass jüdische Student:innen aus Russland von Diskriminierung verschont blieben. Sie erlebten auch dort Ausgrenzung sowohl durch einheimische Student:innen als auch durch nichtjüdische Russ:innen, die sich von ihnen distanzierten und Vorurteile pflegten.

Elsas Blick auf Jüdinnen

Klischeehafte Vorstellungen über Jüdinnen und Juden finden sich auch in Elsas Memoiren, wie die Beschreibung ihrer Moskauer Mitschülerin und Freundin zeigt:

„Manja sah sehr gut aus, sie war von einer rein jüdischen auffallenden Schönheit; die ältere, blonde Schwester bekam mit zunehmendem Alter ein gröberes Profil – ein sogenanntes Katerprofil, im Gegensatz zum ‚raben-‘ bzw. vogelartigen Profil von Nase und Stirn, wie es bei Juden häufig anzutreffen ist“.

Quelle: Elsa Winokurow, Erinnerungen, 43.

Elsa stellt Manja als sehr attraktiv dar – im Unterschied zu deren Schwester, und bezieht sich in beiden Fällen auf einen ethnischen Idealtyp:

„Unter ihnen [den jüdischen Mitschülerinnen] gab es viele schöne Mädchen, die sich ungeachtet der obligatorischen Schuluniform elegant kleideten; auch waren sie, trotz der ständigen Aufsicht, lebhafter, in ihrem Benehmen konnten sich bisweilen dramatische Reaktionen ereignen – hysterische Anfälle bei der Pockenimpfung in der Klasse oder temperamentvolle Szenen bei der Aufdeckung eines geringfügigen Diebstahls“.

Quelle: Ebd., 26f.

Die Verbindung von ethnisch konnotierter „Reinheit“ mit „Schönheit“ veranschaulicht das Wesen der Stereotypisierung, das heißt die Verallgemeinerung. Bemerkenswert ist, dass Elsa ihren jüdischen Mitschülerinnen vorwiegend negatives Verhalten wie Hysterie, Nichteinhaltung von Regeln und aufbrausendes Temperament zuschreibt.

Stereotype im Alltag

Auch eine weitere Passage aus Elsas Memoiren, in dem sie ihre Studienzeit in Zürich zwischen 1903 und 1905 beschreibt, ist frappierend:

„Bei der Immatrikulation waren wir [Russlanddeutsche] als ‚Arier‘ die einzige Ausnahme unter allen 200 Ausländern, die in diesem Semester aufgenommen wurden. Das waren in der Hauptsache Juden aus Russland, fast alle aus den jüdischen Siedlungsgebieten. […] Teilweise waren es verwöhnte Söhne und Töchter reicher Eltern; elegant gekleidet, zogen sie in Gruppen durch die Straßen, unterhielten sich laut und blieben an Kreuzungen stehen. (Oft hörte man von ihnen: ‚Wir sind auch Russen.‘ So kamen die Schweizer zur felsenfesten Überzeugung, die Russen – ‚die sind schwarzhaarig, sehr laut und nicht ganz stubenrein‘ […]). Daneben gab es einen anderen Typ Juden; diese waren sehr still, bescheiden, sichtbar arm und sehr fleißig. Sie alle bildeten schnell eine Gemeinschaft und brachten bald in Erfahrung, was und wo man etwas tun musste“.

Quelle: Ebd., 301f.

Elsa verbindet in ihrer Beschreibung positive Eigenschaften wie Eleganz und Fleiß mit der Klassenzugehörigkeit der Juden. Negative Merkmale wie „nicht ganz stubenrein“ legt sie Schweizer Student:innen in den Mund und versieht diese stereotype Beschreibung mit keinem kritischen Kommentar. Bezeichnenderweise benutzt sie zur Unterscheidung nichtjüdischer Russlanddeutscher von ihren jüdischen Kommiliton:innen den Begriff Arier. Man kann allerdings nur spekulieren, warum sie sich gerade dieses Begriffes bedient, auf welche seiner vielen Bedeutungsschichten sie sich dabei bezieht und warum sie dieses Wort in Anführungszeichen setzt.

Empfohlene Zitierweise: Harper, Sophie: Stereotype gegenüber Jüdinnen und Juden, in: Elsa Winokurow - Studentin, Migrantin, Ärztin. Ein bemerkenswertes Leben um die Jahrhundertwende. (https://www.elsa-winokurow-esg.de/stereotypegegen-%C3%BCber-j%C3%BCdinnen). CC BY-NC-SA 4.0 (Datum des letzten Besuchs).

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