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Studentinnen aus dem Zarenreich in der Schweiz

Quelle: Wilhelm Keller, Schweizerisches Nationalmuseum, Neue Universität Zürich, 1914, Fotografie (Lizenz)

Die Universität Zürich im April 1914

In die Schweiz!

Begrenzte Ausbildungskapazitäten, politische Verfolgung und die damit einhergehende unberechenbare Studiensituation im Zarenreich waren für viele Frauen Beweggründe, zum Studium in die Schweiz zu gehen. Die Universität Zürich ließ bereits 1840 Frauen als Hörerinnen zu. 1873 lag der Frauenanteil an dieser Universität bei 26 Prozent, von denen die überwiegende Mehrheit aus Russland stammte. Die Ursache für die Vorreiterrolle der Schweiz war pragmatischer Natur. Da der Stellenwert der Hochschulbildung gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der Schweiz gering war, akzeptierten die dortigen Universitäten auch Studentinnen, um ihre Finanzierung mittels zusätzlicher Studiengebühren zu sichern. Der hohe Anteil ausländischer Studentinnen war vor allem darauf zurückzuführen, dass sie für die Zulassung zum Studium bis 1873 kein Reifezeugnis vorlegen mussten.

Elsas Studium

Als eine von vielen Frauen aus dem Russländischen Reich ging Elsa Winokurow 1903 zum Studieren in die Schweiz. Zwei Jahre später setzte sie ihr Studium in Berlin fort und kehrte 1906 nach Moskau zurück. Dort arbeitete sie zunächst als Hilfsassistentin und konnte gleichzeitig dank einer zeitweiligen Liberalisierung an der Universität Medizin studieren. Schließlich erwarb sie 1908 ihren Doktortitel in Bonn. Im Ausland zu studieren, brachte einige Schwierigkeiten mit sich: Wie viele russländische Studentinnen berichtete Elsa in ihren Memoiren von fehlenden Sprachkenntnissen und Heimweh. Doch ihre Erfahrungen und Erlebnisse konnte sie mit „meine[n] lieben Moskauerinnen“, wie Elsa andere russländische Studentinnen nannte, teilen, was die Bewältigung anfänglicher Hürden erleichterte (Elsa Winokurow, Erinnerungen, 297).

Politischer Aktivismus

Viele Studentinnen, die bereits in Russland etwa in der sozialrevolutionären Bewegung der Narodniki politisch aktiv waren, unterhielten auch in der Schweiz Kontakte zum russländischen revolutionären Exil oder kamen mit der sozialdemokratischen Bewegung in Berührung. Dies beeinflusste die Entwicklung ihrer politischen Weltanschauung deutlich. Doch ihre Sympathien für linke Ideen, sowohl in der Heimat als auch im Ausland, waren keineswegs selbstverständlich. Viele Studentinnen stammten wie Elsa Winokurow selbst aus gutbürgerlichen Kreisen, hatten ihre Kindheit auf Landgütern mit Kinderfrauen und Dienstboten verbracht, und ihr Studium im Ausland wurde zumeist von der Familie finanziert. Ein Grund für die sozialistische Orientierung der Studentinnen war sicherlich das Engagement linker Bewegungen für die Frauenbefreiung im Allgemeinen und für das Frauenstudium im Besonderen. Die politischen Aktivitäten vieler russländischer Studentinnen im Ausland hatte allerdings Auswirkungen für alle Frauen in Russland: Offiziell wegen sogenannter sittlicher Ausschweifungen, tatsächlich aber aufgrund der anarchistischen Aktivitäten einiger Studentinnen, forderte Zar Alexander II. 1873 alle in Zürich immatrikulierten russischen Staatsbürgerinnen per Dekret auf, die dortige Universität zu verlassen.

„Rebellinnen“ aus dem Zarenreich?

Die Präsenz russländischer Studentinnen in der Schweiz und in Deutschland prägte die gesellschaftliche Wahrnehmung der studierenden Frau allgemein. Die Studentinnen aus dem Osten wurden als rebellische und sittlich verdorbene Russinnen verunglimpft. Dies blieb nicht ohne Konsequenzen für deutsche und schweizerische Studentinnen: Insbesondere westliche Gegner:innen des Frauenstudiums bedienten sich dieser negativen Vorurteile. Als Reaktion darauf und um einer solchen Stereotypisierung zu entgehen, forderten etwa deutsche Feministinnen deutsche und schweizerische Studentinnen auf, sich in Auftreten, Kleidung und Verhalten von ihren russländischen Kommilitoninnen abzugrenzen.

Empfohlene Zitierweise: Schmid, Laura: Studentinnen aus dem Zarenreich in der Schweiz, in: Elsa Winokurow - Studentin, Migrantin, Ärztin. Ein bemerkenswertes Leben um die Jahrhundertwende. (https://www.elsa-winokurow-esg.de/frauenstudium). CC BY-NC-SA 4.0 (Datum des letzten Besuchs).

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