top of page

Elsa und die Musik

Kunstmusik im Moskau der Jahrhundertwende

Bis in die 1860er Jahre stand das Moskauer Kulturleben im Schatten der St. Petersburger Opern- und Konzertwelt. Doch bereits in den folgenden zwei Jahrzehnten wuchs die Stadt zu einer bedeutenden Musikmetropole heran. Exzellente Ballettmeister, Solisten und Kulissenmaler verschafften dem Moskauer Bolschoi-Theater einen immer besseren Ruf. Neben dem etwas altbackenen kaiserlichen Theater zeigte zwischen 1885 und 1904 das Privatopernhaus von Savva Mamontov (1841–1918), was Russland an musikalischem Potenzial zu bieten hatte. Pjotr I. Tschaikowski brachte seine erfolgreichsten Opern, Eugen Onegin (1881) und die Pique Dame (1891), eben in Moskau auf die Bühne. Die etwas älteren russischen Nationalopern, etwa Ein Leben für den Zaren (1842) von Michail Glinka, gehörten Elsa zufolge aber nach wie vor zu den Lieblingsstücken der Moskauer Opernliebhaber.

Quelle: Raschewski, Zeitschrift „Niva“ Nr. 17 S. 340, 1901, Fotografie (CC BY-NC-SA 4.0)

Das Moskauer Konservatorium im Jahr 1901

Nikolai Rubinstein hatte 1860 mit der Gründung des Konservatoriums in Moskau den Grundstein für das Musikstudium nach westeuropäischem Vorbild gelegt. Um dort das Abschlussdiplom als „Freier Künstler“ zu erhalten, mussten die Kandidaten nicht nur die Beherrschung eines Instrumentes, sondern auch Kenntnisse in Musiktheorie und Komposition nachweisen.

Quelle: A. A. Löwensohn Moskau, Russische Staatsbibliothek, Moskowskje Vidy. Na pamjat ot Metropola ·[Erinnerungen vom Hotel „Metropole“ in Moskau, nicht vor 1905, Fotografie. (CC BY-NC-SA 4.0)

Das Bolschoi-Theater in Moskau

Elsas Familie und die ihres Mannes Dmitri besuchten oft das berühmte Bolschoi-Theater. In der Nähe florierte ein weiteres großes Haus, in dem Sawwa Mamontows Oper untergebracht war. Die Aufführungen dort waren sehr unkonventionell: „[…] der hat ja eine Art, zu singen!“ (Elsa Winokurow, Erinnerungen, 172) empörte sich Elsas Klavierlehrer über den dortigen Tenor Fjodor Schaljapin (1873–1939), bevor dieser ans Bolschoi-Theater wechselte und zu internationalem Ruhm gelangte.

00:00 / 03:47

Quelle: P. I. Tschaikowski, Eugen Onegin, Lenski: „Wohin, wohin seid ihr entschwunden“ (Куда вы удались). Quelle: Gramophone & Typewriter Ltd. (Hg.): 2-22572 1418z, St. Petersburg 1904?

Elsa war mit Alexander Bogdanowitsch, einem Sänger des Bolschoi-Theaters, eng befreundet. Während eines Urlaubs in Kislowodsk studierte sie mit ihm womöglich ebendiese Arie aus Eugen Onegin ein.

Musikalischer Familienalltag

Für eine bürgerliche Familie gehörte es sich nicht nur, hin und wieder die Oper zu besuchen – eine gute musikalische Erziehung war in diesen Kreisen selbstverständlich. Alle Kinder der Familie Rammelmeyer erhielten privaten Klavierunterricht, der insbesondere für die höhere Tochter Elsa nahezu unumgänglich war. Sie blieb bis zum Ende ihres Lebens passionierte Klavierspielerin, während ihre Brüder schon bald die Lust am Musizieren verloren. Die Leidenschaft ihres Vaters galt hingegen dem Singen. Carl Franz Rammelmeyer war als Mitglied eines Männergesangvereins auf vielen Festivitäten der Moskauer Stadtgesellschaft zugegen. Elsa begleitete ihn hin und wieder auf dem Klavier, wenn er zu Hause seine Lieblingsmelodien vortrug. Nicht zufällig stand der „Stürzwage-Flügel“ der Familie im Gästezimmer: Musizieren mit Freunden und Bekannten – zum Beispiel nach einem gemeinsamen Abendessen  – sorgte für eine angenehme Atmosphäre und zeugte zugleich von Kultiviertheit und Bildung.

Quelle: Wladimir Winogradow, Royalino No. 2115 des Klavierbauers Leopold Stürzwage, gebaut Ende der 1882er Jahre, Fotografie (CC BY-NC-SA 4.0)

Nicht alle bürgerlichen Familien verfügten daheim über hochwertige Instrumente. Zu Elsas Verdruss besaßen die Rammelmeyers beispielsweise einen Flügel der Firma Stürzwage, ein Name, der „[…] vollkommen der zweifelhaften Qualität des Instruments [entsprach]“ (Elsa Winokurow, Erinnerungen, 193). Die Familie ihres Mannes Dmitri nannte hingegen einen wertvollen Blüthner-Flügel ihr Eigen.

Wege in die Unabhängigkeit

„Was hab’ ich denn davon?“ (ebd., 123), fragte sich Elsa als Abiturientin. Sie war sich ihrer pianistischen Fähigkeiten bewusst, erwog aber kaum, diese für ihren Lebensunterhalt einzusetzen. Im Moskau der Jahrhundertwende hätte ihr – auch als Frau – mit einem Diplom des Konservatoriums eine staatliche oder eine private Klavierlehrerinnenlaufbahn offen gestanden. Insbesondere in den 1890er Jahren besserten sich das soziale Ansehen und die beruflichen Möglichkeiten professioneller Instrumentalisten. Doch bedeutete dies nicht, dass eine selbstständige Berufspianistin mit eigenem Einkommen sich grundsätzlich auf die Anerkennung ihrer männlichen Kollegen hätte verlassen können. Sie konnte auch durchaus belächelt werden. Das Musikleben war also eines der Schlachtfelder, auf denen der Kampf um die kulturelle und gesellschaftliche Stellung der Frau ausgetragen wurde. Trotzdem hätte eine solche Karriere wohl weniger Anstoß erregt als Elsas Medizinstudium.

Quelle: Reminiscences de Lucia di Lammermoor. Fantaisie dramatique pour le piano composée et dediée á Madame Vanotti par Franz Liszt, ca. 1840. Verlag Friedrich Hoffmeister, Leipzig, Fotografie (https://imslp.org/wiki/Special:ReverseLookup/415450) (gemeinfrei)

00:00 / 03:31

Einspielung: Serafín Unglert

Elsa war musikalisch begabt und ehrgeizig. Sie meisterte sogar komplizierte Klavierstücke von Franz Liszt, wie etwa diese Bearbeitung von Lucia di Lammermoor.  

Ein Leben voller Musik

Klavierspielen für den Heiratsmarkt? Von wegen! Für Elsa war das Musizieren sicher eine Herzenssache. Nicht zufällig spielte sie ihrer kleinen Tochter Nathalie in ängstlichen Momenten gerne etwas auf dem Klavier vor, um sie zu beruhigen. Ihr musikalisches Interesse ging deutlich über den Privatunterricht in Moskau hinaus. Zwar hatte sie niemals das Konservatorium besucht, doch pflegte sie Bekanntschaften mit vielen professionellen Musikern. Auf einer Dienstreise nach Schweden machte sie sich 1914 sogar die Gelegenheit zunutze, um mit einem Geiger der Stockholmer Oper das Repertoire des Komponisten Edvard Grieg zu erkunden. Sechzig Jahre später meisterte sie, so berichtet ihr Neffe Matthias Rammelmeyer, immer noch die anspruchsvolle Klavierliteratur.

Empfohlene Zitierweise: Matzig, Josefine: Elsa und die Musik, in: Elsa Winokurow - Studentin, Migrantin, Ärztin. Ein bemerkenswertes Leben um die Jahrhundertwende. (https://www.elsa-winokurow-esg.de/musik). CC BY-NC-SA 4.0 (Datum des letzten Besuchs).

bottom of page