Bürgertum und Essen
Von Johannes Nüßer
In Elsas Erinnerungen ist ständig die Rede von all den Köstlichkeiten, die sie genießen durfte. So erhalten wir einen guten Einblick in Elsas Alltag und in die bürgerlichen Lebenswelten im Zarenreich.
Personal
Ein bürgerlicher Haushalt ohne Personal – undenkbar. 1882 beschäftigten fast 40 Prozent aller Moskauer Haushalte Bedienstete. Das Verhältnis zwischen bürgerlicher Familie und ihrem Personal war zugleich durch Nähe und Distanz gekennzeichnet. Bedienstete waren Teil der Familie und z. B. auch für die Kindererziehung und die Zubereitung des Essens zuständig. Der Klassenunterschied und die materielle Abhängigkeit blieben jedoch unüberbrückbar: Die Arbeitszeiten waren lang, die Verpflegung oft schlecht, und einen Arbeits- bzw. Kündigungsschutz gab es de facto nicht.
Bildtitel: Elsa Rammelmeyer mit Amme, 1883.
Quelle: Sammlung Fotografien aus dem Nachlass Elsa Winokurow. Fotografie. In: Nachlass von Elsa Winokurow (1883-1983). https://opacplus.bsb-muenchen.de/search?id=BV047117118&db=100&View=default. (CC BY-NC-SA 4.0)
Eine Amme hält die neugeborene Elsa. Das Foto verdeutlicht die große Nähe zwischen der bürgerlichen Familie und den Dienstmädchen. Elsa berichtet in ihren Erinnerungen an vielen Stellen mit großer Zuneigung von den Bediensteten ihrer Kindheit.
Besuche und Restaurants
Das gemeinsame Essen im Kreis der Familie und mit Freund:innen im eigenen Haus oder in einem Restaurant bot eine Gelegenheit, alte Bekannte wiederzusehen, neue Menschen kennenzulernen und Informationen auszutauschen. Elsa berichtet in ihren Erinnerungen von vielen solchen Begegnungen. Sie erzählt zum Beispiel von einem Essen mit ihrem Mann und einigen Bekannten, das „recht konspirativ war und einem bestimmten Ziel diente, das man mir und Dmitri verheimlicht hatte“ (Elsa Winokurow, Erinnerungen, 268). Das gemeinsame Speisen stellte somit den Rahmen für private und politische Gespräche dar.
Auf dem Tisch
Elsas Erinnerungen erlauben auch Rückschlüsse darauf, welche Gerichte sich im Moskau ihrer Jugend besonderer Beliebtheit erfreuten, durch welche kulinarischen Vorlieben sich Deutschland und Russland damals unterschieden und wie sich die Essgewohnheiten im Laufe der Zeit verändert haben:
Der belgisch-französische Koch Lucien Olivier (1838–1883) betrieb ab 1864 das bekannte Moskauer Restaurant Ermitage, das auch Elsa in ihren Erinnerungen als einen besonderen Ort erwähnt. Dort wurde der berühmte Salat Olivier serviert, dessen genaue Zutaten nur seinem Schöpfer bekannt waren. Die erste Version des Rezeptes erschien 1894 in der Zeitschrift Nascha pischtscha (Unsere Küche):
„Das Haselhuhn braten, abkühlen lassen, in kleine Scheiben schneiden. Kartoffeln (festkochend) und frische Gurken ebenso in Scheiben schneiden, Kapern und Oliven hinzufügen, alles vermischen und reichlich mit der folgenden Sauce übergießen: Soja "Kabul" in die gewöhnliche Sauce Provencale [sic!] bis zur dunklen Farbe und zum pikanten Geschmack hinzufügen, die Oberseite mit Flusskrebsschwänzen, Salatblättern, Lattich und etwas gehacktem Lanspik verkleiden. Sehr kalt in einer Kristallvase servieren […]. Im Winter kann man die frischen Gurken durch Cornichons ersetzen. Das Haselhuhn kann auch durch Birkhuhn, Rebhuhn oder Huhn ersetzt werden, doch der Geschmack wäre dann nicht mehr so fein.“
Quelle: Nach der Zeitschrift Nascha pischtscha Nr. 6 (31.03.1894) https://liveuser.livejournal.com/77282.html; Übersetzung: Arpine Maniero
Eine heutige Version des Salats ist als Hauptstadtsalat weltbekannt.
1900 reiste Elsa mit ihren Eltern nach Deutschland. Auf der Hochzeit ihrer Münchner Cousine Mathilde stellte sie fest, wie unterschiedlich das Essen in Deutschland und in Russland war:
„Onkel [Karl] Leibl [Mathildes Vater] hatte das Hochzeitsmenü als Kenner kulinarischer Vergnügungen bereits viele Wochen vorher sorgfältig zusammengestellt. Ich erinnere mich: Nach einer Folge von schmackhaften sättigenden Gängen wurde ein Obst-Gang eingeschoben, wonach gemäß den Erfahrungen des Onkels der Magen wieder noch einmal so viele Speisen aufnehmen konnte, und zwar bei vollem Appetit und ohne schädliche Folgen. Wein trank ich nicht, das berühmte Münchener Bier probierte ich und ließ es stehen, aber während des langen Mittagessens aß ich nach russischer Sitte Brot; zu jedem Gericht wurde sehr leckeres helles Gebäck gereicht, von dem ich insgesamt neun Stück verschlang.“
Quelle: Elsa Winokurow, Erinnerungen, 144.
1894 wurde in Moskau das erste vegetarische Restaurant eröffnet. Der Vegetarismus war zwar im Zarenreich des späten 19. Jahrhunderts ein relativ neuer und wenig ausgeprägter Trend, aber immer mehr Menschen ernährten sich aus medizinischen oder ethischen Gründen vegetarisch. Zu ihnen gehörte auch Elsas Mann Dmitri, wie Elsas Bruder Carl Rammelmeyer in einem Brief an ihren Onkel Otto und ihre Tante Martha Rammelmeyer berichtete:
„Dmitri's Befinden – sehr gut[,] lebt streng vegetarisch.“
Quelle: Brief von Carl Rammelmeyer an Otto & Martha Rammelmeyer 17/30 Dez 1911
Essen als Zeremonie
Für die Kinder war das gemeinsame Essen ein Ort des Lernens: Hier konnten sie ihre Konversationskünste ausprobieren sowie Tischmanieren und Rituale einüben. Dafür erhielt Elsa zum Geburtstag ein Kinderservice. Das Essen bot eine Gelegenheit, Bildung als Teil der bürgerlichen Lebenswelt praktisch zu erproben.
Bildtitel: Familie Rammelmeyer auf Terrasse. Franz, Alex, Olga jun., Fedja, Olga sen., 1921.
Quelle: Sammlung Fotografien aus dem Nachlass Elsa Winokurow. Fotografie. In: Nachlass von Elsa Winokurow (1883-1983). https://opacplus.bsb-muenchen.de/search?id=BV047117118&db=100&View=default. (CC BY-NC-SA 4.0)
Elsas jüngerer Bruder Franz Ferdinand, seine Frau, seine Kinder und Neffe Fedja sitzen 1921 – vermutlich schon in Deutschland – am Esstisch. Bilder von Familien beim Essen waren und sind ein beliebtes Motiv. Das hier gezeigte Foto veranschaulicht, wie förmlich diese Situation sein konnte.
Bildtitel: Hilde, Fedja, Elsa, Olga jun., Olga sen., 1965.
Quelle: Sammlung Fotografien aus dem Nachlass Elsa Winokurow. Fotografie. In: Nachlass von Elsa Winokurow (1883-1983). https://opacplus.bsb-muenchen.de/search?id=BV047117118&db=100&View=default. (CC BY-NC-SA 4.0)
Auch über 40 Jahre später lässt sich Elsa mit Verwandten beim Essen ablichten. Der Ort und die Zeit haben sich geändert, nicht jedoch der Repräsentationscharakter und die Wichtigkeit des Essens.
Die bürgerliche Welt, die Elsas Kindheit prägte, war zwar am Ende ihres Lebens verschwunden, die Esskultur behielt jedoch ihre gesellschaftliche Bedeutung. Sie dient(e) auch im Nachkriegsdeutschland der Selbstvergewisserung und als Ausweis bürgerlicher Herkunft.
Empfohlene Zitierweise: Nüßer, Johannes: Bürgertum und Essen, in: Elsa Winokurow - Studentin, Migrantin, Ärztin. Ein bemerkenswertes Leben um die Jahrhundertwende. (https://www.elsa-winokurow-esg.de/essen). CC BY-NC-SA 4.0 (Datum des letzten Besuchs).